DONNERSTAG, 7.10 UHR

Henning war auf der Couch eingeschlafen und wurde durch ein sanftes Rütteln an der Schulter geweckt. »Was tust du hier im Wohnzimmer?«, fragte Lisa ihn verwundert. »Hast du hier übernachtet?« Henning öffnete langsam die Augen, setzte sich vorsichtig auf und nahm den Kopf zwischen beide Hände. Er fühlte sich wie gerädert. Sein Mund und seine Kehle waren trocken, und er hatte leichte Magenschmerzen, wie schon seit Monaten, ohne dass Santos etwas davon wusste. Erst wenn er etwas gegessen hatte, klangen die Schmerzen ab, bis der nächste Hunger kam. Er hätte längst zum Arzt gehen müssen, doch er scheute diesen Gang, die Untersuchung, und er hatte Angst vor dem Ergebnis. Dabei, so hatte er es im Internet recherchiert, handelte es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um einen nervösen und gereizten Magen, im schlimmsten Fall um ein Magengeschwür. Die letzten Jahre waren ihm im wahrsten Sinn des Wortes auf den Magen geschlagen, der Absturz in das soziale Niemandsland, die Abkapselung von der Außenwelt, in die er erst durch Lisa wieder geführt wurde. Die Selbstvorwürfe, einen Unschuldigen in den Selbstmord getrieben zu haben, während der wahre Täter noch frei herumlief, die anschließende Selbstkasteiung und schließlich die Scheidung von einer Frau, die ihn bis vor kurzem ausgenommen hatte wie eine Weihnachtsgans. Nun, da die Kinder fast erwachsen waren, war sie gezwungen, arbeiten zu gehen, schließlich hatte sie einen guten Beruf erlernt.

All dies war nicht spurlos an Henning vorübergegangen, wenn er in den Spiegel schaute, sah er es an den grauer werdenden Haaren, an den tiefen Falten auf der Stirn und um den Mund herum, die sich allmählich bildenden Altersflecken auf den Handrücken, dabei war er noch nicht einmal fünfzig Jahre alt. Spuren eines ereignisreichen und lange Zeit frustrierenden Lebens, die sich sowohl außen als auch innen zeigten. Er war hart geworden, lachte nur selten und ließ kaum jemanden an seinem Leben teilhaben. Nicht einmal Lisa Santos, mit der er schon seit vier Jahren zusammen war, wusste alles über ihn. Es gab Dinge, die seiner Meinung nach nur ihn betrafen und die er auch allein regeln musste. Obwohl Lisa von Beginn an bewusst gewesen war, worauf sie sich einließ, war sie hin und wieder traurig, dass er so verschlossen war. Dabei hatte er auch andere Seiten, er war zärtlich, verständnisvoll, ein guter Zuhörer und ein bisweilen phantasievoller Mann, der ihr jeden Wunsch von den Augen ablas. Und für sie besonders wichtig: Er war kein Macho.

Henning kannte seine Schwächen, er kannte sein Inneres. Dieses Innere wollte aber noch nicht zulassen, dass jemand anderes hineinblicken konnte. »Ich bin mitten in der Nacht aufgewacht und ins Wohnzimmer gegangen. Irgendwann muss ich hier eingepennt sein.« »Was war los?«, fragte Santos, setzte sich zu ihm und legte ihm den Arm um die Schulter. »Macht dir der gestrige Abend zu schaffen?« »Hm.«

»Und was genau? Traust du Albertz nicht?« Henning wandte den Kopf und sah Santos an. »Ich weiß nicht, was ich von der ganzen Sache halten soll. Nicht nur ich, auch du, wir sind gebrannte Kinder ...« »Ja, da hast du recht, aber ...«

»Nein, nein, das ist nicht nur mein übliches Misstrauen. Es gibt da einige Fragen, auf die ich partout keine Antworten finde. Zum Beispiel, warum Albertz nicht offiziell beim Verfassungsschutz als Mitarbeiter geführt wird. Wir wissen nicht das Geringste über ihn, weder in welcher Position er tätig ist noch was sein Aufgabenbereich ist. Alles, was er uns vorgestern und gestern erzählt hat, ist schwammig ...«

»Ich geb dir ja recht, nur was sollen wir jetzt tun?« »Ich bin noch nicht fertig. Ist dir gestern Abend bei Albertz etwas aufgefallen?«

»Ich weiß nicht genau, worauf du hinauswillst ...« »Ich habe ihn beobachtet. Er war die Beherrschung pur. Erinnerst du dich daran, wie ich fast auf ihn losgegangen wäre? Was ich natürlich niemals getan hätte, aber er sollte ruhig merken, wie sauer ich war.«

»Ja, sogar ich dachte, du würdest ihm gleich eine reinhauen.«

»Wie war seine Reaktion?«

Santos überlegte und schüttelte den Kopf. »Er hat nur dagesessen ...«

»Genau, es gab keine. Er saß da, sah mich an, und ich hatte das Gefühl, hätte ich versucht, ihn zu schlagen, er hätte dagegengehalten. Er hat einen auf lässig und cool gemacht, dachte ich zuerst, bis ich heute Nacht zu dem Schluss gekommen bin, dass er tatsächlich lässig und cool ist - im negativen Sinn. Warum hat er sich ausgerechnet uns als Kontaktpersonen ausgesucht? Weißt du's?«

»Nein, aber ...«

»Überleg doch mal. Angeblich ist der Kontakt über einen uns wohlgesinnten Menschen zustande gekommen. Ich habe mir das Hirn zermartert und finde niemanden aus unserem beruflichen oder gar privaten Umfeld, der uns Albertz hätte anempfehlen können. Niemanden. Warum erzählt er uns die ganze Geschichte, darunter auch, dass er angeblich Frau Schumann liebt?« »Ich habe ihn danach gefragt.«

»Das weiß ich. Aber als er so ausführlich von seiner großen Liebe erzählte, da haben bei mir mit einem Mal sämtliche Alarmglocken geläutet. So was macht keiner, wenn er nicht etwas verbergen will ...« »Das verstehe ich nicht.«

»Er lässt uns an seinem Leben und seinen Gefühlen teilhaben, um damit etwas zu verschleiern, nämlich seine wahre Persönlichkeit. Der Mann hat keine Gefühle, hat wahrscheinlich nie welche gehabt, sein Blick war die ganze Zeit über gleich, ausdrucks- und emotionslos. Keine Tränen, keine zittrige Stimme, nichts. Nicht einmal, als er von Frau Schumann sprach, die er angeblich so sehr liebt. Kannst du mir jetzt folgen?« »Ja, ich denke schon.«

»Okay. Aber, und jetzt kommt für mich das große Fragezeichen - warum hat er ausgerechnet uns, die er doch überhaupt nicht kennt, seine Liebesgeschichte erzählt? Angeblich wären wir die Ersten, denen er davon berichtet hat. Das ist doch alles höchst dubios, finde ich.« »Angenommen, du hast recht, was will er dann von uns?«

»Das hat er doch überdeutlich zum Ausdruck gebracht, oder hast du das schon wieder vergessen? Er will, dass wir Friedmann und Müller kaltmachen. Wie geht das mit seiner Aussage zusammen, er habe noch nie einen Mord in Auftrag gegeben? Für mich passt das alles vorne und hinten nicht. Ich sage dir ganz offen, was ich von ihm halte - er ist ein Blender und Täuscher. Er versucht, uns zu manipulieren, ich bin aber noch nicht dahintergestiegen, was er wirklich vorhat.« »Und wenn er es doch ernst meint?« »Wie ...«

»Na ja, der alte Wolf will endlich seine Ruhe haben. Kann doch sein.«

»Dann soll er ins Kloster gehen und eine Million Rosenkränze beten«, entgegnete Henning zynisch. »Ich wette mit dir, nicht irgendeiner aus seiner Abteilung hat die Mordaufträge gegeben, sondern Albertz höchstpersönlich. Albertz ist die Schlüsselfigur, nur steige ich noch nicht hinter seine wahren Absichten. Dazu kommt noch ein weiteres Problem, wir können nicht mal mit jemandem darüber reden, weil wir wieder einmal ganz auf uns allein gestellt sind.« »Volker ...«

»Nein, ich will Volker da raushalten, der hat genug eigene Probleme. Was sollen wir tun? Abwarten, bis Albertz sich wieder meldet? Wird er sich überhaupt noch mal melden? Ich hasse dieses Rumgeeiere, es treibt mich in den Wahnsinn! Ich bleibe dabei, der Typ ist nicht koscher, er versucht, uns in sein Spiel einzubeziehen, wobei wir nur die Bauern sind, die beliebig ausgetauscht werden können. Wenn er sagt, wir sollen uns um Friedmann und Müller kümmern, ist das eine Aufforderung zum Mord. Wie hat er die beiden bezeichnet? Als Sklaven! Was macht man mit Sklaven, wenn sie ausgedient haben? Man entledigt sich ihrer. Und Rüter, er hat letztlich kein gutes Haar an ihm gelassen, obwohl er doch angeblich zum inneren Kreis gehört. Ich sage dir, die Sache stinkt zum Himmel, das sagt mir nicht nur mein gesunder Menschenverstand, sondern auch mein ziemlich hungriger Bauch. Wir werden verarscht, und zwar nach Strich und Faden, und ich werde rausfinden, wer dieser Albertz in Wirklichkeit ist. Ich werde garantiert niemanden umbringen, schon gar nicht, wenn ein undurchsichtiger Typ wie Albertz das quasi von uns verlangt. Auch wenn Friedmann und Müller tatsächlich aus dem Verkehr gezogen gehören.« »Findest du nicht, dass du zu hart in deinem Urteil bist? Ich meine, er hat uns einen ziemlich verstörenden Einblick in die Machenschaften von Verfassungsschutz und BKA gegeben ...«

Henning lachte auf und schüttelte den Kopf. »Das ist es doch! Reine Manipulation. Hat er uns wirklich einen Einblick in die Machenschaften dieser Organisationen gegeben, oder dienen diese Informationshäppchen nur dazu, uns vor seinen Karren zu spannen? Er benutzt uns, das heißt, er will uns benutzen, und denkt wohl, wir sind nur kleine hirnlose Bullen, die ihm jeden Mist abkaufen. Da hat er sich aber geschnitten.« »Ich weiß nicht ...«

»Lisa, ich erinnere dich an unseren Freund Wegner. Ich war ...«

»Oh Mann, jetzt ist gut. Warum hältst du mir immer wieder vor, ich wäre damals zu gutgläubig gewesen? Ich hab's kapiert und fertig, ich will damit nichts mehr zu tun haben, ich will's einfach nur noch ausblenden und vergessen, weil ich mich selbst ohrfeigen könnte, dass ich nicht auf dich gehört habe.«

»Ich wollte dich nicht angreifen oder olle Kamellen aufwärmen, ich meinte damit nur, dass ich auch jetzt wieder dieses ungute Gefühl habe, und ich habe mir heute Nacht geschworen, diesmal auf meine innere Stimme zu hören. Das ist alles. Lass uns was frühstücken, damit wir fit für den Tag sind. Wir fahren ins Präsidium, melden uns kurz bei Volker und machen ab dann Außendienst. Hey, ich kann sogar verstehen, dass du Albertz okay findest, schließlich hat er dir mehrfach geschmeichelt«, sagte Henning mit dem Anflug eines Grinsens und nahm sie in den Arm. »Idiot«, entgegnete Santos und boxte ihm leicht gegen die Brust.

»Ja, schlag mich ruhig. Eins habe ich noch vergessen: Albertz hat den Verfassungsschutz und das BKA so dargestellt, als würden dort ausschließlich Gangster arbeiten, auch wenn er versucht hat, das später zu relativieren, aber der Grundtenor war doch, dass alle dort Verbrecher sind. Zumindest sollte es bei uns so ankommen. Das ist hirnrissig, die meisten dort sind saubere Mitarbeiter, die nur ihren Job machen. Klar, es wird auch beim Verfassungsschutz und beim BKA oder BND schwarze Schafe geben wie überall, aber die sind in der Minderheit, das hoffe ich zumindest. Ich hätte mir alle Punkte aufschreiben sollen, die mir vorhin eingefallen sind, es fehlen wohl noch zwei oder drei. Belassen wir's dabei. Frühstück, mein Magen knurrt. Außerdem muss ich dringend ins Bad.« »Beeil dich bitte, ich muss auch.«

Lisa Santos hielt sich ein Kissen vor die Brust und dachte nach. Hennings Zweifel an Albertz waren berechtigt. Es gab Fälle, wo ihr Bauch deutlich zu ihr sprach und sie auf ihn hörte, und dann wieder welche, wo sie sich blenden ließ, obwohl ihre innere Stimme sie gewarnt hatte - Albertz gehörte zur zweiten Kategorie. Ich werde in Zukunft vorsichtiger sein, dachte sie, froh darüber, dass Henning kühl und pragmatisch an die Sache heranging. Als er aus dem Bad kam, sagte sie: »Ist dir eigentlich klar, dass wir es mit mehreren Fällen gleichzeitig zu tun haben? Das Phantom, Albertz, Friedmann und Müller, Rüter...« »Das hatten wir gestern oder vorgestern schon mal. Es sind aber nicht mehrere Fälle, es ist ein einziger, aber Albertz will uns in die Irre führen. Doch diesmal hat er sich zu weit aus dem Fenster gelehnt. Er ist der Denker und Lenker, kein anderer. Er bestimmt den Kurs, er berät hohe Tiere, natürlich ohne sich als Verbrecher zu outen. Er ist der Meister, und dabei bleibe ich, bis ich vom Gegenteil überzeugt werde.«

»Ich geh ins Bad, machst du Frühstück? Ich hätte gerne ein Ei, sieben Minuten wie immer. Danke.« Santos legte das Kissen zur Seite und ging ins Bad. Während Henning das Frühstück zubereitete, überlegte er, wie sie den Tag gestalten sollten. Letztlich hoffte er, dass Albertz sich noch einmal melden würde, um sich mit ihnen zu treffen. Am liebsten würde er Sarah Schumann einen Besuch abstatten, um die Frau kennenzulernen, die ihren Mann von einem Auftragskiller umbringen ließ, der jetzt eine Blutspur durch Kiel und Umgebung zog. Henning wartete nun ungeduldig darauf, dass Santos aus dem Bad kam, damit er mit ihr den Tag durchsprechen konnte.

 

Eisige Naehe
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